Lajos Talamonti liest aus "Reiche bedienen" von Alizé Delpierre
Servir les riches Übertragung ins Deutsche Katharina Nelly Boll, mit freundlicher Genehmigung der Editions Découvertes
Entgegengesetzte Teile der Gesellschaft, die sonst nie miteinander in Berührung kämen, leben im Dienstbotenverhältnis unter einem Dach. In dieser aufregenden Studie erforscht und analysiert die junge Soziologin und Autorin Alizée Delpierre auf völlig neue Weise das soziologische Herz der Selbsttäuschung unserer aktuellen, globalisierten, sinnentleerten Gesellschaften. Über zwei Jahre lang recherchierte sie einerseits im Milieu der internationalen Superreichen und deren Verhältnis zu Dienstboten und Hausangestellten, und andererseits unter den Hausangestellten selbst, die zu 80% aus fernen Ländern stammen.
Alizés Buch war in der vergangenen Buchsaison in Frankreich auf den französischen Bestsellerlisten, schlug ein wie eine Bombe und wurde bereits ins Japanische und Russische übersetzt. Die Rechte zur vorliegenden deutschen Übersetzung in Absprache mit dem franz. Verlag sind noch frei.
Die Auszüge aus dem Buch liest Lajos Talamonti, legendärer Berliner Schauspieler und Tänzer bei Nico & The Navigators, an der Volksbühne, im HAU und den sophiensaelen.
Alizée Delpierre, geb. 1990 in Paris, ist Doktorin der Soziologie und spezialisiert insbesondere im Dienstbotenwesen der sehr vermögenden Oberschichten. Sie ist Co-Leiterin des Rechercheseminars Domesticités dans l'espace et dans le temps (Centre de sociologie des organisations in Sciences Po Paris) und am Institut de Recherche Interdisciplinaire en Sciences Sociales an der Universität Paris Dauphine) und leitet das Recherchenetzwerk DomesticitéS associé.
Es gibt keine Welt ohne Hausarbeit
So ehrlich ihre Zuneigung zu ihren Dienstboten auch immer sein mag, so sehr bleiben die Vermögenden Privilegierte, sei es auch nur, weil sie eigenständig und ohne gesetzlich klar definierten Rahmen über die Arbeitsbedingungen und das Leben von Tausenden von Menschen entscheiden, deren wichtigste Funktion es ist, Superreiche ihrer undankbaren, mit dem vollen Auskosten ihrer Machtstellung nicht vereinbaren Hausarbeiten zu entledigen. Ihr Geld und das Kapital, das ihnen ihr Geld verschafft, sind der Ursprung dieses kaum sichtbaren, kaum bekannten Privilegs (...)
Dieses Buch hat nicht zum Ziel, die Leserschaft davon zu überzeugen, dass die Reichen generell „Bösewichte“ seien, denn meine Untersuchung bestand ja darin, die Komplexität der Mechanismen des Dienstbotenwesens zu enthüllen, des Herrschens im Privatbereich,
der vergoldeten Ausbeutung, der Ambivalenz der Lebenswege der Hausangestellten, die dank der Vermögenden zwar sozialen Aufstieg erleben, aber dafür gänzlich auf ihr Privatleben verzichten. Es wirft stattdessen einen kritischen Blick auf das, was ein wahrhaftes Klassenprivileg bleibt: sich bedienen zu lassen. Reiche können mit denen, die sie bedienen, machen, was sie wollen, sie sogar ihrer Rechte berauben.
Das Privileg, im Alltag bedient und unterstützt zu werden, erscheint in Bezug zur Mehrheit der Bevölkerung, denen dieses Privileg aufgrund fehlender Mittel verwehrt ist, gänzlich überdimensioniert. Maßnahmen der Regierung zielen zwar darauf ab, den Zugang zu diesem
Privileg zu demokratisieren, aber diese Maßnahmen sind auf wenige Stunden und niedrige Löhne beschränkt und machen das Prekariat im haushaltsnahen Dienstleistungssektor massentauglich. Denn diejenigen, die nicht über die finanziellen Mittel der Vermögenden verfügen, können nur „schlechte Arbeitgeber“ sein. Und sie können es sich auch nicht erlauben, alle Arbeiten zu delegieren, sondern müssen sich zwischen zwei Stunden Haushaltshilfe für einen alten Verwandten, einer Stunde Kinderbeaufsichtigung und einer Stunde Haushaltshilfe entscheiden.
Während mit zunehmender Individualisierung der Gesellschaft die Netzwerke in Familie, unter Freunden oder in der Nachbarschaft (das nicht für alle gleich dicht ist) durch die Vermarktung von Dienstleistung ersetzt wird, bleibt für die prekären sozialen Klassen die Inanspruchnahme von haushaltsnahen Diensten schlicht unvorstellbar. (...)
Darüber hinaus wirft die Logik des Dienstbotenwesens selbst Fragen auf, ebenso wie der Stellenwert von Hausarbeit und Pflege in unserem Leben. Jeder und jede ist zu Hause und bei Nahestehenden damit konfrontiert; und trotzdem herrscht weiterhin die Vorstellung vor, dass es sich bei Hausarbeit und Pflege um niedrige Dienste handle, die es nicht wert sind, sich mit ihnen zu beschäftigen oder diejenigen, die sie ausführen, zu bezahlen. Gewissermaßen sind die Auslieferer bei Deliveroo, Uber oder Flink die neuen Gesichter einer ausgelagerten Dienstbotenschaft, die weitreichender als bisher die Privilegien der Vermögenden reproduzieren. Sie sind nicht den Reichen vorbehalten, aber hier setzt sich fort, nicht genehme Beziehungen auf Distanz zu halten. Welchen Sinn hat eine Gesellschaft, in der es gilt, sich um jeden Preis der vitalsten Aufgaben im eigentlichen und im übertragenen Sinne zu entledigen, und die sich von Armen, Migranten, und Frauen bedienen lässt? Auf eine so störende wie fundamentale Frage zu antworten bedeutet, die Bedingungen einer Gesellschaft neu zu durchdenken, in der das Abwälzen von Bedürfnissen auf Dienstleister sich nicht nur zugunsten der Privilegiertesten und zu Ungunsten derer, die die Hausarbeit und Pflege ausführen, akzeptiert wird. Superreiche werden sich immer selbst davon überzeugen, dass ihre Dienstboten nicht überflüssig sind und sie jedes Recht der Welt und es verdient haben, sich Dienstboten zu halten. Aber nichts zwingt die Mehrheit der Bevölkerung dazu, das auch so zu betrachten.
allet rund
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